Eine Rezension zu Stephan Lessenichs „Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem“
Stephan Lessenichs neues Essay über die „Grenzen der Demokratie“ lässt sich als Debattenanstoß über eine zugleich besonders attraktive und zunehmend herausgeforderte gesellschaftliche Selbsterzählung auffassen: ihre liberaldemokratische Verfasstheit. Das Büchlein liest sich wie der explizierte Begleittext, der hörbar gemachte basso continuo seines Vorgängerwerks von 2016: „Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“. Dort zentral freilich steht die Analytik sozialer Ungleichheit im globalen Maßstab und ihrer unweigerlichen Verflechtung mit dem Phänomen der Externalisierung: d. h., dass die kapitalistischen Ökonomien des globalen Nordens ihren Wohlstand und ihr Versprechen immerwährender Prosperität auf Kosten anderer zelebrieren. Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte war nur möglich, weil Ressourcen anderswo ausgebeutet wurden und die Folgen des verschwenderischen Konsumismus auch andere tragen müssen. Dass dies nicht nur der landnehmenden kapitalistischen Wirtschaftsweise anzulasten ist, sondern von Staat (als Arrangement der politischen Regulierungen der sozioökonomischen Bedingungen und Bedingtheiten dieses Wirtschaftens) und Demokratie (als gesellschaftliche Lebensform) ermöglicht wird, darum geht es in dem neuen Buch.
Jetzt also Demokratie. Lessenich provoziert mit dem neuen Essay, dass über sakrosankte gesellschaftliche Konventionen nicht nur des Privateigentums und daran geknüpfter Herrschaftspositionen, sondern auch über die liberaldemokratische Selbsterzählung als rechtliche Ermächtigung ihrer ökonomischen Lebensweise zu sprechen ist. Und so entzündet sich sein Text am „Hochwertbegriff“ Demokratie (7).
Zu Beginn nimmt er sich Colin Crouchs demokratietheoretische Parabel-Metapher kritisch vor. Crouch behauptet, dass die Zeitspanne zunehmender Demokratisierung in den 1970er Jahren auf einen Wendepunkt zulief, in dessen Folge Demokratie zu einer Fassade erstarrte, hinter der ein entgrenzter Lobbyismus und technokratische Machenschaften die demokratischen Qualitäten politischer Gemeinwesen aushöhlen. Dabei nimmt Lessenich insbesondere an Crouchs Zeitverständnis Anstoß. "Als das Andere der postdemokratischen Gegenwart konstruiert er nämlich eine noch nicht allzu ferne Vergangenheit, in der vielleicht nicht alles besser, in jedem Fall aber die Welt der Demokratie noch in Ordnung war." (12) Die Rede von der Postdemokratie führe so gezwungenermaßen die Vorstellung eines "goldenen Zeitalters der Demokratie" mit sich, an dessen Kritik Lessenich gelegen ist.
Nicht nur die realen "demokratischen Schattenexistenzen" von Frauen, Migrant*innen, Nicht-Erwerbstätigen (13) werden damit in ein falsches Licht der Nachkriegs-Demokratiegeschichte gerückt. Auch die erschlagend evidenten Befunde um die Effekte sozialer Ungleichheit auf das politische Beteiligungshandeln, das Armin Schäfer und andere seit einiger Zeit eindrücklich aufdecken, referiert Lessenich richtigerweise.
Allerdings ist Demokratie für Lessenich selbstredend nicht identisch mit Wahlbeteiligung, auch wenn sich beispielsweise den empirischen Befunden von Schäfer et al. zufolge genau daran zeigen lässt, wie Ausschluss durch Einschluss funktioniert. Darum geht es Lessenich nämlich im Kern. Ihm ist um die Doppelmoral westlicher Demokratien zu tun – im Buch ist vorsichtiger von der "Dialektik der Demokratie" (15) die Rede –, und diese spiegele sich eher in einer spiral- denn parabelförmigen Bewegung wider:
„Das demokratische Berechtigungsniveau wird nach und nach höhergeschraubt – doch auf ihrem scheinbar kollektiven Weg nach oben lässt die Demokratie immer wieder auch ganze Kollektive zurück.“ (15)
Die Geschichte der Demokratie erscheint unter dieser Maßgabe als eine Geschichte der Teilhabe durch Ausschluss. Überhaupt sieht Lessenich in der Demokratie – insbesondere in ihrer liberalen Variante, die für die gesellschaftliche Selbsterziehung herhalten muss – ein "großes Schließungsspiel" (70).
Genauer nimmt er dieses Schließungsspiel in den Kapiteln 2 bis 6 in den Blick. Er baut dabei zunächst Theoriebausteine unter anderem von Thomas H. Marshall und Frank Parkin zusammen, um zu plausibilisieren worum es ihm geht. Marshalls Konzept von Citizenship zeigt, wie zentrale Berechtigungspositionen für die Gewährung bürgerlicher, politischer und sozialer (und industrieller) Rechte im „Staatsbürgerschafts“-Status begründet sind und wie damit die Erzählung von Demokratisierung als schrittweise Inklusion, d. h. als Ausweitung des Berechtigtenkreises der Berechtigungspositionen verknüpft ist.
Dem entgegen stellt Lessenich Frank Parkins hellsichtige Analysen über die sozialen Schließungspraktiken sozial Ausgeschlossener. Parkin zufolge reagieren (etwa von Produktionsmitteln und Privateigentum, allgemeiner von gesellschaftlichen Herrschaftspositionen) Ausgeschlossene selbst mit einer gegenseitigen und gegeneinander gewandten Schließung. Es ist instruktiv, dass Lessenich den auf Konflikt und Schließung verweisenden Terminus des "Solidarismus" ausgräbt, den Parkin dafür wählt.
Damit sind schon drei von insgesamt vier von Lessenich gezählten Arenen des modernen demokratischen Konflikts herausgearbeitet: Erstens der Konflikt zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden (die vertikale Achse), zweitens, dessen, um was es Parkin geht, nämlich der Konflikt unter den Nicht-Besitzenden selbst (die horizontale Achse). Hinzu kommt Marshalls transversale Konfliktachse zwischen Staatsbürger*innen und Nicht-Staatsbürger*innen und zuletzt eine externale Achse, die den Konflikt um die gesellschaftliche Naturverhältnisse anzeigt.
Auf diesen Achsen finden Verteilungskämpfe um Berechtigungspositionen und Rechtsansprüche statt, die im Wesentlichen in Gestalt sozialer Schließung zutage treten. Mit sozialer Schließung meint Max Weber (und auf diesen explizit Bezug nehmend auch Stephan Lessenich) einen sozialen Beziehungstypus, der an den Versuch der Verhinderung von Beteiligungen Dritter die Erwartung an Sicherung und Erweiterung der eigenen Handlungschancen knüpft.
Das demokratische Schließungskarussell, so wie es sich Lessenich vorstellt, lässt sich kurz und knapp so abschreiten: Kapitalisten schließen sich gegen die Lohnabhängigen-Klasse, die ausgeschlossenen Lohnabhängigen betreiben soziale Schließungen gegeneinander und konkurrieren damit um die bestmögliche Positionen in ihrer Lohnabhängigen-Klassenlage, nämlich auf dem Arbeitsmarkt; und alle gemeinsam schließen sich, um die Situation nicht noch „schlimmer“ zu machen, gegen die, die (noch) keine Staatsbürgerschaft errungen haben – gegen Hinz und Kunz (56), wie Lessenich polemisiert.
Faktisch vermittelt Demokratie also ungleiche Lebenschancen und Chancen, mit seinem Besitz Einfluss zu nehmen. Auf einem Bein lautet Lessenichs Argument der Begrenzung von Demokratie so: denen, die oben sind, ist darum zu tun, dass die, die unten sind, nicht die gleichen Rechte haben; die, die auf einer (unteren) Stufe stehen, achten peinlichst genau darauf, dass sie andere ihresgleichen vom Genuss von Bildung oder Konsum ausschließen können; und gemeinsam achtet man*frau darauf, dass die, die draußen sind – jenseits des demokratisch verfassten politischen Gemeinwesens – , auch dort bleiben.
Soweit, so soziologisch konventionell. Mit dem Clou kommt Lessenich aber auf der vierten Achse um die Ecke, denn es geht noch ärger: Über oder hinter allem – je nach Perspektive – steht das Verhältnis demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften zur Natur (oder Umwelt). Hier schlössen sich nämlich Alle gegen Eine (70-80) zusammen – gegen die natürliche Umwelt einer sozialen Welt: „Natur wird als das Andere der Gesellschaft, als etwas dieser Äußerliches konstruiert, das niemandem gehört, das man sich daher einfach nehmen, sich nach Belieben aneignen darf.“ (75) Demokratien tendieren also zu einer systemischen Überschreitung ihrer natürlichen Grenzen (103). Ihre Entgrenzung besteht darin, dass sie zur Gewährleistung der Teilhabe auf einem uneingeschränkten Zugriff auf natürliche Ressourcen baut. Die Folge ist ein hemmungsloser Raubbau, dessen Kosten nicht nur zukünftige Generationen, sondern Menschen bereits – nicht hier, aber heute – zu spüren bekommen: Neben uns die Sintflut.
Doch wie gesagt: die Grenzen der Demokratie lesen sich wie der in den Vordergrund getretene basso continuo von Neben uns die Sintflut. Denn die liberale Demokratie wird nun von Lessenich explizit als Vehikel zur Verteidigung und Aufrechterhaltung nicht nur der innergesellschaftlichen Schließungstendenzen entlarvt, sondern einer strukturell nicht-nachhaltigen Produktions- und Lebensweise.
„Das ‚Subjektivitäts- und Freiheitsverständnis, wie es sich im Zuge der bürgerlichen Aufklärung entfaltet und in modernen Gesellschaften hegemonial ausgebreitet hat‘ – gemeint ist hier die Vorstellung des freien, selbstbestimmten, autonomen Individuums –, ist der Demokratie selbst zum Problem geworden […], und zwar deshalb, weil es ganz wesentlich zu einem Projekt der individuell gedachten und kollektiv-individuell praktizierten Emanzipation von wirtschaftlichen Wachstums- und stofflichen Ressourcengrenzen mutiert ist. Die liberaldemokratische Gesellschaft hat die ‚Politik der Nicht-Nachhaltigkeit‘ zu ihrem Prinzip erhoben“ (103).
Demokratie zehrt von einem guten Standing, doch gerade die Koppelung von Kapitalismus und Demokratie führt dazu, dass innergesellschaftliche Konkurrenzbeziehungen auf immer neue Spitzen getrieben werden – genauer müsste man sagen „Tiefpunkte“, denn Lessenichs Argument lautet ja, dass man gezwungen ist, sich beständig ein neues Unten oder Außen zu schaffen, um sich symbolisch und materiell zu rehabilitieren. Zwar argumentiert Demokratie beständig mit formal gleicher Teilhabe, aber systematisch nährt sie sich von Ausschlüssen und Externalisierungen.
Lessenich weiß vermutlich, dass er nicht davor gefeit ist, mit dieser demokratiekritischen Sichtweise durchaus mit illiberalen, wenn nicht gar rechtspopulistischen Positionen in eine Sichtachse gestellt zu werden – aber das will ihn nicht daran hindern, seine ideologiekritische Analyse auszubreiten. Er erklärt nämlich auch – zumindest kursorisch –, dass rechtspopulistische Kräfte genau auf diesen Schließungsachsen unterwegs sind. Im Kern ihrer Programmatik stehen demnach, wenig überraschend, Vorrechte von Leistung gegen Nicht-Leistung (vertikale Achse), von Männern gegenüber Frauen (horizontale Achse), von Einheimischen gegenüber Nicht-Einheimischen, von Weißen gegenüber Nicht-Weißen (transversale Achse) und eben auch von Menschen gegenüber der Natur, des Automobils gegenüber der Umwelt (externale Achse) (93). Dieser leider etwas en passant eingeführte Gedanke bietet einen interessanten Anknüpfungspunkt für die Analyse rechter und/oder rechtspopulistischer Bewegungen.
Aber sei’s drum – Lessenich hat sich auch keine Analyse des Rechtspopulismus vorgenommen. Ihm geht es zuletzt ums große Ganze. Er stellt die Systemfrage: „Lässt sich Demokratie entgrenzen und ökologisch begrenzen?“ (95) Lassen sich Berechtigungspositionen erweitern, ohne dass dies durch ausbeuterischen und zerstörerischen Raubbau erkauft werden muss? Als Lösung bietet er Solidarität an – als progressiven Gegenbegriff zu den Grenzen der Demokratie und ihren Schließungs- und Ausschließungskaskaden. In dem Sinne soll Solidarität transformativ sein, weil sie nicht nur Menschenkollektive untereinander, sondern auch mit der natürlichen Umwelt in Verbindung setzten soll. Doch am Ende des Essays bleibt Lessenichs Text – gezwungenermaßen? – recht appellhaft uneindeutig. Worin beispielsweise könnten die von ihm herbeigewünschten „solidarischen Praktiken“ bestehen, die „die [ganze? ; Anm. d. Verf.] herrschende Verteilungsordnung in Frage“ (105) stellen sollen? Was lässt sich unter einer „Praxis der Überbrückung von Differenz“ (104) verstehen, bzw. was ist gemeint, wenn gesagt wird, dass Solidarität „praktisch“ wird „in der Überwindung der in der Marktgesellschaft herrschenden Statuskonkurrenz“ (104). Programmatisch geht es Lessenich bei seinem Solidaritätsappell um die Anerkennung einer Ungleichheitsstruktur, und um die Einsicht in die Machtposition, „die uns von den weltgesellschaftlichen Verhältnissen gegeben ist“ (107). Dass lässt sich als normativer Standpunkt so unterschreiben.
Lediglich zwei Dinge lassen abschließend noch nachdenklich werden. Erstens: Will man eine wie auch immer programmatisch ausgestaltete Solidarität schmackhaft machen, muss man dann den so tief verankerten Kampf um relative Privilegien – Lessenich hat dies auf fast 100 Seiten ja erörtert – nicht viel mehr Beachtung schenken? Lessenich hat zwar recht, dass „wir zu jenen gehören, die von den Privilegien der Berechtigung zehren (106)“. Er wählt dabei aber einen Maßstab, der mitunter nicht der Maßstab derer ist, deren Solidarität aber einzufordern wäre. An dieser Stelle bringt Lessenich Parkers Begriff des Solidarismus wieder ins Spiel und plädiert für „Kampfsolidarität“. Das macht die Sache ihrer Programmatik nach nicht verständlicher.
Einzig, Lessenich fordert konkret ein allgemeines Wahlrecht für alle, „die das politische Gemeinwesen bevölkern“ (109), d. h. jenseits von Staatsbürgerschafts- oder Aufenthaltsstatus. Dem lässt sich vorbehaltlos zustimmen. Allerdings stellt sich, zweitens, die Frage, ob in dieser Sache nicht auch die Empirie der Realutopie einen Strich durch die Rechnung macht. Immerhin hat Lessenich ja selbst referiert, dass Studien eindrücklich zeigen, dass sogar ein Großteil der heute formal mit Wahlrecht Ausgestatteten davon nicht Gebrauch machen. Das ist kein Argument gegen die Realutopie, aber eine Beobachtung, die ihr möglicherweise ein wenig Emphase aus den Segeln nimmt. Doch das wäre zu verkraften, besticht der Text doch durchgehend mit seiner kämpferischen Analytik, die an vielen Stellen richtige und wichtige Denkanstöße gibt.