Besorgte Kommunitarist*innen oder verunsicherte Nationalliberale?

In der Rechtspopulismusforschung werden aktuell verschiedene Theoreme diskutiert, die versuchen die Gründe für die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in den politischen Werthaltungen, Gesellschaftsbildern und habituellen Denkmustern der Anhänger*innen dieser Parteien zu identifizieren. Ziel dieser Charakterisierungsversuche ist es, das Phänomen Rechtspopulismus aus den nachfrageseitigen Politikbedürfnissen zu erklären, die sich aus diesen Werthaltungen und Gesellschaftsbildern ableiten lassen. 

Besagte Theorieströmung betrachtet den Rechtspopulismus als Gegenbewegung zur neoliberalen und globalisierenden Moderne (vgl. etwa die aktuellen Zeitdiagnosen von Fraser, Koppetsch, Reckwitz, Goodhart, Dörre u.a.), die bestehende Werthaltungen und Gesellschaftsbilder verletzt und dadurch Statusverunsicherungen auslöst. Die Träger*innen dieser Moderne seien in erster Linie gut ausgebildete Kosmopolit*innen bzw. „Anywheres“ – also Menschen, die keine regional oder lokal verankerten Netzwerke benötigten und einen internationalen Lebensstil pflegten. Traditionelle, lokale und regionale Gemeinschaften der sogenannten „Somewheres“ würden von diesem Kult der „Singularisierung“ (Reckwitz) nicht geachtet. Durch die zunehmende gesellschaftliche Dominanz des Kosmopolitismus seien die Gemeinschaften der „Somewheres“ mitsamt ihren traditionell-religösen und geografisch verankerten Identitäten gefährdet. Sie fühlten sich marginalisiert und geringgeschätzt. Der Rechtspopulismus wiederum sei eine Gegenbewegung gegen diese globalisierende und „globale Moderne“ mit ihren liberalisierenden, individualisierenden und ökonomisierenden Entwicklungen. Diese Gegenbewegung bestehe in einem Rückbezug auf national oder zumindest regional verankerte Gemeinschaften mit ihren althergebrachten Lebensweisen, Identitäten und Solidaritätsvorstellungen, die Menschen mit abweichendem Verhalten oder anderer Herkunft ausschließen.

Im Herbst 2018 führte das Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach im Auftrag der Bundesregierung eine Befragung der Wohnbevölkerung ab 16 Jahren in Deutschland durch, bei der knapp über 1000 Menschen zu ihren Wertvorstellungen und Lebenszielen befragt wurden.[1] Über eine Quotenauswahl wurde dabei Repräsentativität erreicht. Das bedeutet, dass die Stichproben bei verschiedenen Kriterien (z.B. Ost/West, Region, Geschlecht, Berufstätigkeit, Berufskreise, Familienstand, Haushaltsgröße, Alter, Wohnortgröße) entsprechend der amtlichen Bevölkerungsstatistik nach dem Mikrozensus 2017 zusammengestellt wurden. Zwar kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass auch beim Bildungsabschluss, beim Berufsabschluss sowie anderen Kriterien Repräsentativität gegenüber der amtlichen Bevölkerungsstatistik gegeben ist. Trotzdem wurde durch die oben genannten Kriterien ein sehr großes Maß an Repräsentativität in Bezug auf die gesamtdeutsche Wohnbevölkerung erreicht.

Die spannenden Ergebnisse in Bezug auf den Rechtspopulismus finden sich bei dieser Studie weniger im Text, der allgemeine Trends in der Gesamtbevölkerung herauszuarbeiten versucht, sondern vor allem im Tabellenanhang. Denn verdienstvollerweise hat das IfD alle seine Befragungen zu Wertvorstellungen, Gesellschaftsbildern und Lebenszielen im Anhang nach Parteianhänger*innenschaft aufgeschlüsselt. Als Parteianhänger*in gelten in der Studie all jene Personen, die eine bestimmte Partei „als sympathischste nannten“ (IfD Allensbach 2019: Anhang). So kann anhand der Ergebnisse nicht nur versucht werden, ein Bild über Werte, Gesellschaftsbilder und Einstellungen von Unterstützer*innen der AFD zu gewinnen. Es kann auch gezeigt werden, wo sich diese Einstellungen von jenen der Anhänger*innen anderer Parteien unterscheiden.

Dies erscheint als besonders wertvoll, weil bestimmte Items (z.B. „Hilfsbereitschaft“) aufgrund gesellschaftlicher Normen und sozialer Erwünschtheit in der Regel überdurchschnittlich hohe Zustimmungswerte erreichen und daher erst in den Zustimmungsunterschieden zwischen den Anhänger*innen der einzelnen Parteien die eigentlichen Anhänger*innenprofile deutlich werden. Außerdem kann auf Grundlage dieser Daten überprüft werden, ob es Werte und Einstellungen gibt, bei denen sich AFD-Sympathisant*innen womöglich ganz grundlegend von allgemeinen Trends in der Bevölkerung unterscheiden. Dazu lassen sich die Daten nach drei Bereichen unterschieden:

1) Konzepte und „Freiheiten“, die den Befragten als „besonders“, bzw. „sehr wichtig“ für ihr Leben erscheinen.
2) Wahrnehmungen und Vorstellungen der Befragten vom aktuellen Zustand der Gesellschaft und zur eigenen gesellschaftlichen Position.
3) Wünsche und Vorstellungen der Befragten, wie unsere Gesellschaft in Zukunft sein sollte und welche Werte dafür in Zukunft eine wichtige(re) Rolle spielen sollten. 

1) Konzepte und „Freiheiten“, die den Befragten „besonders“, bzw. „sehr wichtig“ und „erstrebenswert“ für ihr Leben erscheinen


Für diesen Bereich sind vor allem zwei Fragen (Frage 14 und Frage 45a/B) mit jeweils bis zu 23 Items interessant, die sich im Tabellenanhang unter „Persönliche Situation und Lebensziele“ finden. 

1.1) Sehr wichtige Freiheiten

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Erstaunlich unauffällig im Sinne der Kommunitarismus-These sind die Antworten auf die Frage 45a/B in Bezug auf die Anhänger*innen der AFD . Bei dieser Frage mussten Kärtchen, auf denen bestimmte Freiheiten formuliert waren, danach sortiert werden, ob sie den Befragten „persönlich sehr wichtig“ sind. Man hätte hier erwartet, dass beispielsweise entsprechend der Kommunitarismus-These traditionelle Freiheiten wie die Freiheit, „dass ich meine Religion frei ausüben kann“, oder die Freiheit, „dass ich meine Kinder erziehen kann, wie ich möchte“, bei AFD-Anhänger*innen sehr große Zustimmungswerte erreichen. Doch sind die vorgeschlagenen Freiheiten den Anhänger*innen der AFD weder in besonderer Weise wichtiger oder weniger wichtig als den Unterstützer*innen anderer Parteien.[2 ]

Bei der freien Kindererziehung, die unter den Sympathisant*innen aller Parteien eine Zustimmungsmehrheit erreicht, ist der Zustimmungswert der AFD-Unterstützer*innen (58,7 Prozent) allerdings der zweitniedrigste nach jenem der FDP-Anhänger*innen (56,1 Prozent) und gleichauf mit den Ergebnissen der Sympathisant*innen der LINKEN (58,9 Prozent). Die Religionsfreiheit als „sehr wichtige Freiheit“ ist bei Anhänger*innen von LINKEN, AFD und FDP nicht einmal mehr mehrheitsfähig, im Gegensatz zu den Unterstützer*innen von CDU/CSU und B.90/Grüne (53 bzw. 52,1 Prozent). 
Die stärkste Abweichung der AFD-Anhänger*innen von den Unterstützer*innen der anderen Parteien findet sich bei der Zustimmung zu der materialistischen Freiheit, „dass ich kaufen kann, was ich möchte“. Während diese Freiheit bei den Sympathisant*innen der anderen Parteien ganz knapp nicht mehr als „sehr wichtige Freiheit“ mehrheitsfähig ist, findet dieses Item bei den AFD-Anhänger*innen eine Zustimmung von 55,2 Prozent.

1.2) Konzepte, die für „ganz besonders wichtig“ und „erstrebenswert“ für das eigene Leben gehalten werden

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Bei Frage 14 finden sich 13 von 23 Items, die Konzepte bzw. Lebensziele benennen, die jeweils von einer Mehrheit der befragten Anhänger*innen fast aller Parteien als „ganz besonders wichtig“ eingeschätzt werden. Dazu gehören beispielsweise soziale bzw. solidarische Konzepte. Hier fällt auf, dass die Anhänger*innen der AFD (manchmal gemeinsam mit jenen der FDP) soziale oder solidarische Konzepte wie „Gute Freunde haben“, „Verantwortung für andere übernehmen“ oder „Menschen helfen, die in Not geraten“ am wenigsten unterstützen. „Menschen helfen, die in Not geraten“ ist bei Anhänger*innen der FDP (49,5 Prozent) und vor allem der AFD (41,3 Prozent) im Gegensatz zu den Unterstützer*innen der anderen Parteien (zwischen 60 und 69 Prozent Zustimmung) nicht einmal mehrheitsfähig.

Im Gegensatz dazu und auch als im Gegensatz zur Kommunitarismus-These interpretierbar sind Items, die eine Ich-Orientierung operationalisieren. Hier zeigen sich erstaunlich hohe Zustimmungswerte bei AFD- und FDP-Anhänger*innen im Vergleich zu den Unterstützer*innen der anderen Parteien. Beispielsweise bei dem Konzept „Viel Spaß haben, das Leben genießen“. AFD-Anhänger*innen erreichen hier den höchsten Zustimmungswert mit 69,5 Prozent. Sowohl „Religion, feste Glaubensüberzeugung“ als auch Familienorientierungen („Kinder haben“, „Sich für die Familie einsetzen“) sind für AFD-Anhänger*innen dagegen nicht von besonderer Bedeutung. Ihre Zustimmungswerte bewegen sich bei diesen Items im Bereich von FDP- und LINKEN-Sympathisant*innen und deutlich unterhalb der Zustimmungswerte der Anhänger*innen von CDU/CSU, SPD oder B.90/Grüne. Postmaterialistische Lebensziele wie Kultur, Bildung, Ökologie oder Sinnsuche werden von AFD-Anhänger*innen am wenigstens goutiert.


2) Wahrnehmungen und Vorstellungen der Befragten vom aktuellen Zustand der Gesellschaft und zur eigenen gesellschaftlichen Position


2.1) Wahrnehmungen und Vorstellungen vom aktuellen Zustand der Gesellschaft/Gesellschaftsbilder

Gesellschaftsbeschreibungen Abschnitt 2. neu.JPG

Eine Mehrheit der Befragten betrachtet die Gesellschaft als stark in Arm und Reich gespalten (Frage 38 mit 21 Items im Bereich „Gesellschaftsbild“ des Tabellenanhangs). Dass wir in Deutschland in Wohlstand leben, glaubt nur noch eine ganz knappe Mehrheit der FDP- und CDU/CSU-Anhänger*innen. Die Gesellschaft wird mehrheitlich als zu ökonomistisch und zu unsolidarisch beschrieben. Nur eine Minderheit glaubt, dass in unserer Gesellschaft den Armen ausreichend geholfen werde und alle ausreichend sozialstaatlich gegen Lebensrisiken abgesichert seien. Auch sind nur wenige Befragte der Überzeugung, dass Leistung belohnt werde und ausreichend große Aufstiegsmöglichkeiten bestünden. Nur rund ein Viertel der Befragten glaubt daran, dass Familie und Kinder in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielten, und nur um die 15 Prozent, dass dies auf die Rolle der Religion zutreffe. Nur eine Minderheit glaubt, dass Umweltschutz ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen sei (zwischen knapp 50 Prozent der FDP-Anhänger*innen und rund 10 Prozent der Unterstützer*innen der LINKEN). Bei den Anhänger*innen von B.90/Grüne glaubt eine knappe Mehrheit, unsere Gesellschaft sei auf Sicherheit bedacht, bei den anderen Befragten ist es lediglich eine Minderheit. Etwa 20 Prozent aller Befragten denken, es gebe zu viele Freiheiten. 

Die Sympathisant*innen der AFD fallen innerhalb dieser großen Trends durch ein eigenes Profil auf:
Es lässt sich feststellen, dass sie, ähnlich wie die Anhänger*innen der LINKEN, am stärksten von einer unsolidarischen, ökonomisierten Gesellschaft ausgehen. Sozialstaatliche Absicherungen schätzen sie als unvollständig ein. Die Kritik der Anhänger*innen anderer Parteien z.B. an mangelnder Solidarität, unzureichender Absicherung oder der großen Bedeutung des Geldes scheinen sie aber weniger stark zu teilen. Hierbei ähneln die AFD-Sympathisant*innen stark den Unterstützer*innen der FDP. Um einiges stärker noch als letztgenannte (und von allen Parteianhänger*innen am stärksten) glauben AFD-Unterstützer*innen an eine nicht vorhandene Leistungsgerechtigkeit. Mit deutlichem Abstand zu den anderen Parteianhänger*innen glaubt nahezu ein Drittel der AFD-Unterstützer*innen, dass es zu viele Freiheiten und zu wenige Regeln gebe. AFD-Sympathisant*innen gehen weniger als alle anderen Befragten davon aus, dass religiöse, familiäre, ökologische oder nationalistische Werte eine Rolle in der Gesellschaft spielten. Nur etwa ein Viertel der AFD-Unterstützer*innen ist der Auffassung, die Deutschen würden den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt kritisch beurteilen. Sie scheinen also den ökonomischen Härten, die sie als dominant betrachten, mit mehr Regeln, mehr Unterordnung, mehr Leistungsgerechtigkeit und weniger Freiheiten begegnen zu wollen − und im Vergleich zu den Anhänger*innen linker(er) Parteien mit weniger Solidarität und weniger Kritik an der „großen Rolle des Geldes“.

2.2) Eigene Position in der eigenen Gesellschaftsbeschreibung/Anomie

Vor allem die Antworten zu den Fragen 2, 3, 45b/B, 15/A und 36 im Tabellenanhang beschreiben das Selbstbild und die Selbsteinschätzung der eigenen Lage der Anhänger*innen der unterschiedlichen Parteien.
Zunächst einmal zeigt sich, dass AFD-Wähler*innen sich nach den Unterstützer*innen der LINKEN am stärksten entsichert fühlen: Sie glauben mit großem Abstand zu den Anhänger*innen der anderen Parteien und zu insgesamt rund 75 Prozent daran, dass wir „heute in einer besonders unsicheren Zeit“ leben und „dass alles weniger kalkulierbar und planbar ist als früher“. B.90/Grüne-Anhänger*innen stimmen dem beispielsweise nur zu 34,4 Prozent zu. AFD-Unterstützer*innen glauben von allen Befragten am stärksten daran (62,4 Prozent), die Menschen in Deutschland würden nicht die gleichen Grundüberzeugungen teilen. Sie halten Deutschland also für polarisiert, während sie gleichzeitig von allen Parteianhänger*innen am stärksten der Meinung sind, dass es für eine Gesellschaft „sehr wichtig“ oder „wichtig“ sei, „dass die Menschen ähnliche Grundüberzeugungen“ teilen (94,2 Prozent, eigene Berechnung). Der Eindruck von einer in ihren Grundüberzeugungen polarisierten Gesellschaft muss bei AFD-Anhänger*innen zu weiteren Befürchtungen führen und damit ihre geäußerte Verunsicherung („unsichere Zeiten“) stärken.

Spannend sind auch die extremen Urteile von AFD-Anhänger*innen zur Verwirklichung verschiedener Freiheiten in Deutschland. Auch sie zeugen im Vergleich mit den Sympathisant*innen der anderen Parteien von einer starken Verunsicherung und Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen und politischen Zuständen. Gerade eine knappe Mehrheit der AFD-Anhänger*innen (52.9 Prozent; B.90/Grüne-Anhänger*innen fast 80 Prozent) glaubt daran, „dass ich meine Meinung frei sagen kann“, nur 22 Prozent sind der Meinung, „dass ich die gleichen Chancen im Leben und Beruf habe wie andere auch“, und nur 13 Prozent (bei anderen Parteien ist es knapp ein Drittel) glauben, „dass ich nicht vom Staat überwacht werde“. Nur die Anhänger*innen der LINKEN fühlen sich mit ihren „Grundüberzeugungen“ noch stärker marginalisiert als die Unterstützer*innen der AFD. Jedoch hoffen auch AFD-Wähler*innen, in einem ähnlichen Umfang wie die Anhänger*innen der anderen Parteien, „dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland weitgehend die gleichen Werte und Grundüberzeugungen teilt wie sie“.

3) Wünsche und Vorstellungen der Befragten, wie unsere Gesellschaft in Zukunft sein sollte und welche Werte dafür in Zukunft eine wichtige(re) Rolle spielen sollten


3.1) Wünsche und Vorstellungen der Befragten, wie unsere Gesellschaft in Zukunft sein sollte

Frage 39 im Tabellenanhang der Studie weist die Zukunftswünsche der Befragten in Bezug auf die Gesellschaft und nach Parteianhänger*innenschaft aus. Auch hier zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den Lebenszielen:
Große Mehrheiten unter allen Befragten sprechen sich für eine zukünftig größere Solidaritätsorientierung der Gesellschaft aus. Wiederum sind es aber auch hier die Anhänger*innen der FDP und vor allem der AFD, die diesem generellen Trend meistens nur mit größerem Abstand zustimmen. Während Unterstützer*innen der LINKEN „mehr Solidarität, mehr Zusammenhalt“ zu 85,1 Prozent befürworten, tun dies AFD-Sympathisant*innen nur zu 62,1 Prozent (kleinster Wert unter allen Befragten). Bei der Forderung nach „zunehmender Hilfsbereitschaft“ (Zustimmung AFD-Anhänger*innen: 64,9 Prozent) oder danach, „dass Geld weniger wichtig wird“ (Zustimmung AFD-Anhänger*innen: 52,5 Prozent), zeigt sich bei AFD-Anhänger*innen zwar noch eine mehrheitliche Zustimmung, aber eben die deutlich geringste im Vergleich mit den Sympathisant*innen aller anderen Parteien. „Mehr Wohlstand“ hält zwar von allen Befragten nur eine Minderheit für wichtig. Unter den Anhänger*innen der AFD ist diese Minderheit mit 26,4 Prozent und mit deutlichem Abstand zum Rest jedoch die größte (B.90/Grüne: 13,2 Prozent).

Geht es um die Forderung nach mehr internationaler Solidarität[3], die nur unter Anhänger*innen von B.90/Grüne mehrheitsfähig ist (57, 7 Prozent; Anhänger*innen der LINKEN: 48,4 Prozent), halbiert sich der Zustimmungswert der AFD-Anhänger*innen (23,3 Prozent) im Vergleich zu den meisten anderen Befragten (bei FDP-Anhänger*innen sind es jedoch auch nur 35,5 Prozent). Beim Item zu mehr Offenheit gegenüber Zuwanderer*innen wird diese Polarisierung noch deutlicher (AFD: 5,2 Prozent; B.90/Grüne-Anhänger*innen: 52 Prozent; LINKE: 44 Prozent; FDP: 16,1 Prozent). Dass die Familie an Bedeutung zunehmen soll, ist weitgehend knapp mehrheitsfähig (außer bei LINKEN-Anhänger*innen). Spannenderweise wünschen sich vor allem FDP-Anhänger*innen – noch vor CDU- und AFD-Unterstützer*innen und vor den Anhänger*innen der linken Parteien – eine größere Bedeutung der Familie. Der Wunsch nach einer erhöhten Bedeutung religiöser Überzeugungen wird nur von kleinen Minderheiten geäußert. Bei den Anhänger*innen von LINKER und AFD sind sie am geringsten. Ein stärkerer Rückgriff auf Tradition ist nur bei AFD-Sympathisant*innen deutlich mehrheitsfähig, während sich AFD-Anhänger*innen von allen Befragten am wenigsten wünschen, „dass die Gesellschaft freier ist, das (sic!) es weniger gesellschaftliche Zwänge gibt“ (AFD: 17,2 Prozent; B.90/Grüne: 35,3 Prozent).

3.2) Welche Werte sollen in einer zukünftigen Gesellschaft eine wichtige(re) Rolle spielen?

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Die Antworten auf Frage 35 im Tabellenanhang geben Aufschluss über gesellschaftliche Wertvorstellungen für die Zukunft: „Von welchen Zielen und Werten hängt es ab, ob unsere Gesellschaft sich in Zukunft gut entwickelt? Welche […] Werte […] sollen unsere Gesellschaft in Zukunft prägen?“ (IfD Allensbach 2019: Anhang). Unter allen Befragten sind dabei vor allem soziale und solidarische Werte mit großer Mehrheit zustimmungsfähig. Die AFD-Anhänger*innen fallen hier wiederum dadurch auf, dass sie teilweise mit deutlichem Abstand die geringste Zustimmung zu diesen hochkonsensualen Werten aufweisen (z.B. bei „Hilfsbereitschaft“: LINKE: 86,9 Prozent; FDP: 81,1 Prozent; AFD: 74,1 Prozent; oder „Solidarität“: LINKE: 85,7 Prozent; FDP: 69,7 Prozent; AFD: 55,9 Prozent). In Bezug auf die Kommunitarismus-These ist von besonderem Interesse, dass im Gegensatz zu allen anderen Befragten nur eine Minderheit der Anhänger*innen der AFD (39,5 Prozent) „Gesellschaftliches Engagement“ für einen wichtigen gesellschaftlichen Zukunftswert halten (LINKE: 72,1 Prozent, CDU/CSU: 60,6, SPD: 54,7, FDP: 55,3 Prozent). Bei der Zustimmung zum Wert „Staatliche Fürsorge“ liegen die Unterstützer*innen der AFD mit einer knappen Mehrheit (52,8 Prozent) hinter den Zustimmungswerten der Sympathisant*innen der Parteien des linken Spektrums (LINKE: 58,7 Prozent; SPD: 53,6 Prozent), aber vor den Anhänger*innen von FDP (nur 33,2 Prozent) und CDU/CSU (48,6 Prozent).

Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Wert „Unternehmergeist“, nur dass sich die AFD-Unterstützer*innen bei diesem Item näher am rechten als am linken Spektrum befinden. Besonders auffällig sind die Zustimmungswerte der AFD-Anhänger*innen zu den Werten „Recht und Ordnung“ und „Familiensinn“. Hier übertreffen sie die nächstliegenden, positiven Zustimmungswerte von Sympathisant*innen anderer Parteien um fast 10 Prozentpunkte. Besonders der Wert „Nationalstolz“, der bei den Anhänger*innen der anderen Parteien keine Mehrheit findet (FDP: 45,1 Prozent, CDU/CSU: 38,6 Prozent, B.90/Grüne: 21,7 Prozent, LINKE: 22), stößt bei den Unterstützer*innen der AFD mit 77,1 Prozent auf sehr große Zustimmung. Bei diesem Item besteht der größte Zustimmungsabstand zu den Anhänger*innen der nächstplatzierten Partei (FDP) innerhalb der gesamten Studie. Auch „Toleranz gegenüber Minderheiten“ ist ein Wert, der für die Anhänger*innen der anderen Parteien mehrheitlich klar zustimmungsfähig ist (B.90/Grüne: 81,9 Prozent; LINKE: 78,9 Prozent; CDU/CSU: 66,2 Prozent; FDP: 59 Prozent). Nicht so für die Anhänger*innen der AFD (32,8 Prozent). Am deutlich stärksten stimmen sie im Gegensatz zu allen anderen Befragten den allgemein mehrheitsfähigen Werten „Eigenverantwortung“ (85,8 Prozent) und „Leistungsgerechtigkeit“ (87,7 Prozent) zu (Zustimmungsdurchschnitt der anderen Parteianhänger*innen: 78,9 bzw. 78,5 Prozent). Am vehementesten wünschen sich AFD-Anhänger*innen (87,7 Prozent Zustimmung) mehr „Ehrlichkeit“ für eine zukünftig bessere Gesellschaft (Durchschnitt der anderen Parteianhänger*innen: 83,2 Prozent). Der allgemein zustimmungsfähige Wert „Gemeinschaftssinn“ wiederum stößt bei den Sympathisant*innen der AFD (67,1 Prozent; sowie FDP: 57,7 Prozent) auf die im Vergleich kleinsten Mehrheiten (B.90/Grüne: 79,7 Prozent).

Fazit

Ausgehend von der einleitend genannten Kommunitarismus-These in Bezug auf den Rechtspopulismus, zeigt sich in den Daten der untersuchten Allensbachstudie, dass die Anhänger*innen der AFD die mehrheitlich solidarischen Gesamttrends bei wichtigen Konzepten, Lebenszielen und Werten am wenigsten unterstützen. Ähnlich wie die Unterstützer*innen der FDP und im Gegensatz zu den Symathisant*innen der restlichen Parteien befürworten sie Hilfsbereitschaft, Solidarität und soziales Miteinander am wenigsten. Die Anhänger*innen der AFD betrachten Gesellschaft und Demokratie als unsicher, ökonomisch polarisiert und materialistisch – jedoch ohne dies wie die Unterstützer*innen der meisten anderen Parteien in ähnlicher Stärke zu kritisieren. Im Vergleich zu den Sympathisant*innen der anderen Parteien scheinen für AFD-Anhänger*innen, Familie, „Kinder haben“ und Religion als persönliche Lebensziele nicht von besonderer Wichtigkeit zu sein. „Familiensinn“ soll aber in Zukunft für eine „gute Entwicklung“ „unserer Gesellschaft“ wieder eine größere Rolle spielen. Hier besteht ein Widerspruch zwischen persönlichen Lebenszielen und gesellschaftspolitischen Zukunftswünschen.

Als besonders wichtige Lebensziele und Freiheiten benennen AFD-Anhänger*innen, noch vor den Unterstützer*innen der FDP und weit vor den anderen Parteien, uneingeschränkten Konsum und „Spaß haben im Leben“. Materialistische Ich-Orientierung stößt also auf große Zustimmung bei den Sympathisant*innen der AFD. Umweltschutz, Bildung, Kultur und postmaterialistische Sinnsuche stoßen bei AFD-Anhänger*innen im Vergleich zu anderen Parteianhänger*innen dagegen auf weniger Interesse. Die im Vergleich größte Zustimmung erreichen bei den AFD-Anhänger*innen die Werte „Eigenverantwortung“ und „Leistungsgerechtigkeit“ als für die gesellschaftliche Zukunft wichtige Werte. Wobei der Staat in Zukunft nicht völlig aus der Verantwortung genommen werden soll. Er soll solche Werte als Erziehungsinstanz eher ordoliberal bis autoritär („Recht und Ordnung“: Zustimmungsrekord der AFD-Anhänger*innen mit 97,2 Prozent) durchsetzen. 

Es zeigt sich also weniger das oft gezeichnete Bild von besorgten Kommunitarist*innen, deren persönliches Lebensziel es wäre, innerhalb regionaler Gemeinschaften, traditionelle und konservative Werte (wie Familie und Religion) selbst zu leben. Vielmehr lassen sich die Daten dahingehend deuten, dass AFD-Anhänger*innen in ihren persönlichen Lebenszielen stärker als andere einem materialistischen und leistungsorientierten Individualismus folgen, dessen Honorierung der Staat garantieren soll. Dieser Individualismus hält relativ wenig von Gemeinschaftssinn, Hilfsbereitschaft und Solidarität mit anderen. AFD-Unterstützer*innen scheinen jedoch massiv verunsichert zu sein. Hat dies womöglich damit zu tun, dass sich ihre scheinbare (Leistungs-)Stärke nicht mehr ausreichend in ökonomische und kulturelle Dominanz sowie soziale Integration umsetzen lässt? Erst bei den gesellschaftspolitischen Zukunftswünschen sprechen sich die Anhänger*innen der AFD dann stärker als andere Parteianhänger*innen für eine größere Bedeutung der Werte „Familiensinn“ und „Tradition“ aus.  Aber in noch stärkerem Ausmaß für eine höhere Bedeutung liberaler Werte wie „Leistungsgerechtigkeit“ und „Eigenverantwortung“. 

Abschließend sollen diese Eindrücke zu den vorliegenden Daten in folgender Hypothese verdichtet und weiterentwickelt werden: AFD-Anhänger*innen empfinden sich als in einer besonders unsicheren Zeit lebend. Dieses Gefühl könnte aufgrund des ökonomischen, ökologischen und kulturellen Wandels der letzten zwanzig Jahre entstanden sein. Dieser Wandel, der sich in Migrationsbewegungen, kulturellen Liberalisierungen, einer großen Finanzkrise, Diskussionen um Klimapolitik und ökonomischer Polarisierung zeigt, scheint die meritokratischen Gerechtigkeitsvorstellungen und materialistischen Lebensziele der AFD-Anhänger*innen in Frage zu stellen. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Wandlungsprozesse werden von AFD-Anhänger*innen tendenziell personalisiert und moralisiert, anstatt sie strukturell und kritisch zu hinterfragen. Ihre nationalliberale und meritokratische Grundhaltung verhindert eventuell eine depersonalisierende und entmoralisierende Kritik kapitalistischer Entwicklungen.

Der als sozialdarwinistische Wettkampf interpretierte Kapitalismus wird als gerecht, bzw. natürlich und/oder unveränderbar imaginiert. Wahrscheinlich vermuten AFD-Anhänger*innen deshalb personalisierte, unfaire Umtriebe, unmoralisches und manipulatives Verhalten hinter sozioökonomischen und soziokulturellen Veränderungen, die ihnen als ungerecht erscheinen. Zur Aufrechterhaltung ihres Weltbildes benötigen sie scheinbar Sündenböcke. Die imaginierten Umtriebe dieser Sündenböcke dienen den AFD-Anhänger*innen womöglich als Erklärungen für ihre eigenen Anpassungsschwierigkeiten und Zukunftssorgen. Aufgrund ihrer meritokratischen Orientierungen müssten sie diese Schwierigkeiten andernfalls als eigene Schwächen interpretieren. Gegen diese ‚unmoralischen‘ Umtriebe fordern sie deshalb − für eine Herstellung von Leistungsgerechtigkeit und Eigenverantwortung, als deren Profiteure sie sich selbst betrachten –mehr „Recht und Ordnung“. Ein autoritärerer Staat soll ihre Leistungsfähigkeit stärker honorieren und nicht jenen helfen, die es in ihren Augen aufgrund einer vermeintlich geringeren Leistungsfähigkeit nicht verdient haben. 

Die eigentlichen Triebkräfte des Rechtspopulismus wären damit in einer projektiven Abwehr wandlungsbedingter Deprivations- und Anomieempfindungen zu suchen. Entscheidend für diese Hypothese wäre aber, dass Anhänger*innen der AFD vor allem Menschen mit materialistischen Lebenszielen und nationalliberalem sowie meritokratischem Welt- und Gesellschaftsbild sind. Ohne die personalisierende (und oftmals verschwörungsideologische) Projektion auf Sündenböcke müssten sie ihre Empfindungen von Deprivation und Anomie als eigenes Versagen und mangelnde Anpassungs- und Leistungsfähigkeit interpretieren. 

Fußnoten:


[1] Institut für Demoskopie Allensbach (IfD). (2019). Wertvorstellungen und Lebensziele (Berichte für das Bundespresseamt). Allensbach. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-62893-9[08.01.2020]

[2] Dies kann aber auch daran liegen, dass die Fragen teilweise so formuliert sind, als wären manche Freiheiten bereits verwirklicht und als ginge es nur um die Zustimmung zu diesen vermeintlich verwirklichten Freiheiten. So ist FDP-Anhänger*innen die Freiheit, „dass durch die Krankenkassen alle gesundheitlichen Risiken und Gesundheitsleistungen abgedeckt sind“, am wenigsten „persönlich sehr wichtig“, was als Befürwortung von Eigenverantwortung logisch erscheint. Es folgen jedoch als nächstes die Anhänger*innen der LINKEN mit einem ebenfalls geringeren Zustimmungswert als jenen der Unterstützer*innen der anderen Parteien. Anhänger*innen der LINKEN bezweifeln jedoch wahrscheinlich eher, dass bereits alle Risiken und Leistungen durch das bestehende Gesundheitssystem abgedeckt seien. In ihrer geringeren Zustimmung kommt also vermutlich eher Zweifel als ein Bedürfnis nach größerer Eigenverantwortung zum Ausdruck.

[3] Item: „Dass Deutschland dazu beiträgt, dass sich auch ärmere Länder gut entwickeln.“