Kommentar zum Vortrag "Rechtspopulismus als männliche Identitätspolitik?"

Am 7. Februar 2019 fand in der Alten Aula der Eberhard Karls Universität Tübingen die Eröffnungsveranstaltung des Promotionskollegs Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität statt. Zu den beiden Vorträgen gab es jeweils kurze Kommentare von Promovierenden. Hier dokumentieren wir Richard Siegerts Kommentar zu Birgit Sauers Vortrag “Rechtspopulismus als männliche Identitätspolitik?”

Kurzzusammenfassung des Vortrages von Birgit Sauer

Birgit Sauer beschäftigte sich in ihrem Vortrag „Rechtspopulismus als männliche Identitätspolitik?“ mit der Rolle von Geschlechter- und Sexualitätsverhältnissen in den Diskursen der radikalen Rechten. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Kategorie Geschlecht in der rechten Diskursproduktion seit etwa zehn Jahren an Bedeutung gewinnt, stellte sie die These auf, dass der in den 1970er-Jahren begonnene Wandel der Geschlechterregime – der sich u.a. in einer Politisierung von Geschlechterungleichheit, der partiellen Integration von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt sowie einer damit verbundenen Erosion des männlichen Familienernährermodells artikuliert – einen Schlüssel zum Verständnis des zeitgenössischen Rechtspopulismus darstelle. Geschlecht spielt Sauer zufolge „eine prominente Rolle im biopolitischen Hegemonieprojekt der Rechtspopulisten“, da deren maskulinistische (und zumeist nationalistische) Identitätspolitiken verunsicherten „angry white men“ (Kimmel) ein regressives Angebot zur Selbstaffirmation und zur Re-Etablierung traditioneller Geschlechterkonstellationen unterbreite.

Birgit Sauer spricht über das Verhältnis von Rechtspopulismus und Geschlecht.

Birgit Sauer spricht über das Verhältnis von Rechtspopulismus und Geschlecht.

Kommentar von Richard Siegert

Vielen Dank, Birgit Sauer, für diesen sehr interessanten Vortrag!

Ich musste beim Zuhören an ein Interview denken, das ich heute vormittag auf Zeit-Online gelesen habe. Es handelt sich um ein Gespräch mit dem kanadischen Maskulinsten und Bestseller-Autor Jordan Peterson, der gerade in Europa auf Tournee ist und bei seinen Vorträgen offenbar deutlich größere Säle als diesen hier füllt – im Interview war von bis zu 2500 Menschen die Rede. Der Titel des Interviews bestand aus einem Zitat Petersons: „Junge Männer haben gar nichts“. An anderer Stelle im Interview sagte der Autor: „Die Gesellschaft ist ein Patriarchat – das bedeutet, sie ist männlich dominiert. Das genau ist mein Punkt, es ist eine natürliche Kategorie.“ Ich glaube, das ist ein ziemlich gutes Beispiel für den neuen Hypermaskulinismus und die gleichzeitige „Krise der Männlichkeit“, die Sie eben angesprochen haben.

Sofern ich Sie richtig verstanden habe, lautet die These Ihres Vortrages, dass die Veränderung patriarchaler Geschlechterordnungen ein bzw. vielleicht sogar der Schlüssel zum Verständnis des Rechtspopulismus darstellt. Und dass das Wahlverhalten rechtspopulismusaffiner Männer sowie der sich darin äußernde Anti-Genderismus Ausdruck eines Kampfes um kulturelle Hegemonie sind, der sich gegen die demokratischen und sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wendet.

Richard Siegert kommentiert Birgit Sauers Vortrag.

Richard Siegert kommentiert Birgit Sauers Vortrag.

Ich finde diese Analyse aus mehreren Gründen sehr interessant: Zum einen widerspricht sie der in der Rechtspopulismusforschung verbreiteten Annahme, dass die Kategorie Gender keine zentrale Rolle innerhalb der rechtspopulistischen Ideologie darstelle. 

Zweitens verdeutlicht das heteronormative, exklusive und vermeintlich natürliche Verständnis von „Volk“, das dem Rechtspopulismus zugrunde liegt, wie ich finde, sehr eindrücklich den antidemokratischen und antipluralistischen Charakter des Rechtspopulismus. Es wird ja nach wie vor nicht selten behauptet, der Rechtspopulismus wäre eine Art demokratisch geläutertes Pendant des Rechtsextremismus. Wie aus Ihren Ausführungen hervorgeht, ist das aber keineswegs zwingend der Fall. Vielmehr lassen sich zahlreiche Schnittmengen mit der extremen Rechten ausmachen. 

Ein dritter, meiner Meinung nach wichtiger Aspekt ist die Betonung, dass Anti-Genderismus in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext der Prekarisierung von Lebensentwürfen zu betrachten ist und nicht „nur“ als Reaktion auf queer-feministische Kämpfe, dass er also als eine Art Ersatz für Kritik an der gewaltförmigen Vergesellschaftung im Kapitalismus darstellt.

Inwieweit die Entstehung der neuen radikalen Rechten tatsächlich primär aus Geschlechterverhältnissen heraus gedacht werden kann bzw. sollte, ist eine höchst spannende Frage, die wir hoffentlich gleich und/oder morgen noch intensiver diskutieren werden.