Postdemokratie, Rente und Rechtspopulismus. Wie sollten sich Gewerkschafter*innen zu rechtpopulistischer Rentenpolitik verhalten?

Aus der römischen Republik wurde im 2. Jahrhundert vor Christus zum ersten Mal von einem Phänomen berichtet, welches auch heute sehr viel Aufmerksamkeit erregt: Der Populismus. Im Kampf um die Macht ergriffen damals aufsteigende Eliten die Möglichkeiten, die ihnen das -  im Vergleich zu heutigen Demokratien - pseudodemokratische System bot. Sie versuchten als Volkstribune ihre Macht auszubauen. Für eine Mobilisierung der Bürger in ihrem Interesse und gegen das „Establishment“, benutzten sie die soziale Frage. Diese „Populares“, wie sie bald von ihren Gegnern bezeichnet wurden, sind nicht zu verstehen ohne ihre Gegenbewegung die „Optimaten“. Auch die Optimaten als Elitenbewegung versuchten verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit bestimmten Narrativen – also anbiedernden Erzählungen über den Zustand der Welt und die moralischen Verfehlungen des Gegners – interessenorientiert auf ihre Seite zu ziehen. Damals ging es vor allem um die immer stärkere Inbesitznahme landwirtschaftlicher Flächen durch die damals herrschenden Patrizierfamilien und die Verarmung der Plebejer*innen.

Aufgrund von hierarchischen und arbeitsteiligen Klassen- und Schichtstrukturen und die daraus folgende ungleiche Verteilung von „ökonomischem“ und vor allem auch „kulturellem Kapital“, fehlt vielen Bürger*innen in einer Demokratie oftmals (Detail- und Prozess-) Wissen. Sie sind auch oft schon zeitlich nicht in der Lage elaborierte Elitendiskurse über (z.B. Renten-) Politik zu verfolgen. Nach dem Soziologen Pierre Bourdieu sind große Teile der Wähler*innen in ihrer politischen Meinungsbildung zum einen auf ihren Alltagsethos angewiesen, dessen moralische Einschätzungen auf dem alltäglichen Erleben basieren. Zum zweiten orientieren sie sich an sogenannten „Urteilen zweiten Grades“. Darunter versteht Bourdieu politische Linien (z.B. von Parteien, Gewerkschaften etc.), die über lange Zeiträume das Vertrauen der Wähler*innen gewonnen haben. Und zwar ohne das die Bürger*innen in jedem Politikfeld die Sinnhaftigkeit der politischen Linie des Akteurs zu jeder Zeit faktenbasiert abschätzen können. Das Vertrauen von Wähler*innen in eine bestimmte politische Partei- oder Organisationslinie geht also mit einer hohen Verantwortung der Akteure für den Umgang mit diesem Vertrauen einher. Populismus versucht dieses Vertrauen schnell und affektiv über emotionale Ansprache des Alltagsethos und seiner Ressentiments zu gewinnen. Er versucht die Gesellschaft zu polarisieren und Aggressionen zu verstärken um Bürger*innen gegen die Teile der Eliten zu mobilisieren, die er gerne beerben möchte. Demokratische Parteien und Organisationen müssten also im Gegensatz zu Populist*innen ihrem lang aufgebauten, inhaltlichen Markenkern und nicht dem kurzfristigen Machterhalt verpflichtet sein.

Die neoliberalen Narrative der heutigen Optimaten in Parteien, der Wirtschaftswissenschaft, Vorstandsetagen und Thinktanks verfolgten in den letzten 30 Jahren – wenn man so will – ebenfalls einen Populismus, der ein Ziel hatte: Politik „alternativlos“ werden zu lassen und so zu verändern, dass die Profitraten steigen. Wenn die FDP das macht, ist sie ihrem Markenkern verpflichtet. Auch bei Teilen der obengenannten Eliten (z.B. Manager*innen, Arbeitgebervertreter*innen) gehört Profitmaximierung kapitalismusbedingt zur Berufsbeschreibung. Wenn dieser einseitigen Linie jedoch auch Volksparteien folgen (Trickle-down-Glaube), die inhaltlich eng mit dem konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell Deutschlands verbunden sind, gerät die Demokratie in einen postdemokratischen Zustand. D.h. Unterschiede zwischen den Parteien sind immer weniger erkennbar, alle verfolgen eine „Metapolitik“ des Kapitals. Ausdruck dieser Metapolitik des Kapitals sind millionenschwere Werbeagenturen und Lobbyorganisationen, wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die versuchen eine kapital- und profitfördernde Weltsicht ‚unters Volk zu bringen‘. Begrifflichkeiten dieser Metapolitik des Kapitals sind die „Schwäbische Haufrau“, die „schwarze Null“, die „aussterbenden Deutschen“ und andere Metaphern, die an Alltagslogiken der Bürger*innen anknüpfen aber neoliberale Ideologie als Grundlage der Umverteilung nach Oben transportieren. Das Ziel dieser Metapolitik des Kapitals war eine Rückeroberung oder Landnahme – wie es der Soziologe Klaus Dörre ausdrücken würde - von Bereichen innerhalb des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates. Diese sollten wieder einer, dem privaten Profit dienenden Logik, untergeordnet werden.

Ein Paradebeispiel dafür ist die Privatisierung des deutschen Rentensystems. Gegen jede gesellschaftliche Verantwortung wurde unter der Regierung Schröder in die Rentenformel die Riestertreppe eingebaut, die dafür sorgt, dass das Rentenniveau sinkt und die Menschen somit um den Preis der Verhinderung von Altersarmut gezwungen werden bei der Versicherungsbranche für sie schlechte Versicherungsprodukte zu kaufen. Erreicht wurde das über einen Demografie-Populismus, der das erfreuliche Älterwerden der Menschen mit Endzeitszenarien verband. Verbreitet wurde diese populistische Ideologie vor allem auch von interessenorientierten Wissenschaftler*innen. Dieses Beispiel deutet auch auf die gesellschaftlichen Gefahren hin, die bei einem verstärkten Ausfall einer projekt- und drittmittelorganisierten Wissenschaft als Ort des pluralen und aufklärenden, politischen Sachverstandes drohen. Die Menschen wurden auch durch den Einfluss einer Expertise verströmenden, fast vollständig neoliberalen Wirtschaftswissenschaft gegen ihre eigenen Interessen und gegen das umlagefinanzierte staatliche Rentensystem mobilisiert.

Das Pikante daran: Dieser Wohlfahrtsstaat mit seinem umlagefinanzierten Rentensystem, war nach dem Grauen des zwanzigsten Jahrhunderts ja durchaus absichtsvoll auf- und ausgebaut worden. Weil die damaligen Eliten zu großen Teilen einem Narrativ anhingen, das 1944 am pointiertesten von Karl Polanyi in seinem Werk „The Great Transformation“ dargestellt wurde. Polanyi hatte postuliert, dass die zunehmende Vermarktlichung der Gesellschaften vor den großen Kriegen über die daraus entstehenden Finanz-, Wirtschafts- und Kulturkrisen zu gesellschaftlichen Gegenbewegungen führten. Diese können emanzipatorischer Natur sein und wie im „New Deal“ in den USA zu einem Ausbau des Sozialstaats führen. Ungleichheit wird verringert, soziale statt marktförmige Organisation (mit ihrer Gewinner-versus Verlierer-Logik) wird befördert und gewaltförmige Lösungen gesellschaftlicher Probleme somit präventiv verhindert. Diese Logik bezeichnen wir im Folgenden als demokratische Vernunft, da sie auch in den sozialen Menschenrechten als Teil der unteilbaren Menschenrechtslogik zum Ausdruck kommt.

Die postdemokratische Verhinderung einer erfolgreichen Gegenbewegung der demokratischen Vernunft gegen die umfassende Marktsteuerung, z.B. über Notstandskabinette, Technokratenregierungen und Austeritätspolitik, kann aber auch wie im Deutschland der 1930er Jahre die Energien in Richtung einer faschistischen Auflösung der Demokratie umleiten. So wollen die Rechtsextremen um Björn Höcke und das Institut für Staatspolitik (IfS) auch heute wieder ganz bewusst die soziale Frage nutzen, um Mehrheiten für eine faschistische Politik zu gewinnen. Durch den Populismus der ‚optimatischen‘ Eliten wird es ihnen leichtgemacht: Die Fake-News des Neoliberalismus sind einfach zu wiederlegen. Der Zustand der Volksparteien (vor allem der SPD) zeigt deutlich, wie ein Parteiensystem implodiert, dass auf alten  Vertrauensverhältnissen aufbaute und durch wiederholte neoliberale „Alternative Fakten“ sein Vertrauen verspielt hat. Am deutlichsten wird das heute in der Klimapolitik, weil hier wissenschaftliche Akteure mehrheitlich für ökologische Ziele Position beziehen und das neoliberale, kurzfristig-profitorientierte Weiterwursteln enttarnen.
Die vor allem über Ökonom*innen und Sozialwissenschaftler*innen verbreitete Demografie-Lüge in der Rentenpolitik ist heute für die Neofaschist*innen ebenfalls leicht aufzudecken. Diese Aufdeckungen fördern bei den Bürger*innen das Gefühl von sogenannten „Systemparteien“ manipuliert worden zu sein, hinter denen scheinbar unheimliche Kräfte wirken. Statt einer rationalen und anspruchsvollen Kapitalismus-, Lobbyismus-, Herrschafts- und Elitenkritik ist es hier nicht mehr weit zum Antisemitismus und zur Suche nach anderen Sündenböcken (Muslime, Sozialschmarotzer, Feministinnen etc.).

Die Zerstörung des Vertrauens in die Demokratie ist also ein Zusammenspiel zum einen zwischen postdemokratischen Eliten, die immer mehr Bereiche des Wohlfahrtsstaates, der Landnahme anheimstellen und dies mit Populismen zu rationalisieren versuchen. Sie knüpfen bewusst beim Alltagsethos der Wähler*innen an (z.B. Glaube an Leistungsgerechtigkeit), um diese zur Einwilligung in ihre verschärfte, eigene Ausbeutung zu bewegen (z.B. „Fordern und Fördern“). Der wirkmächtigste Populismus dieser Eliten ist das „Diktat der leeren Kassen“, welches über ein Zurückfahren der „Steuerbelastung“ der Bürger*innen etabliert wird und wie ein unsichtbarer, scheinbar alternativloser Austeritätszwang wirkt.

Und zum anderen neofaschistischer Eliten, denen es in diesem gefährlichen Spiel obliegt, die neoliberalen Populismen aufzudecken, die Aggressionen der Betrogenen auf Sündenböcke umzulenken und Ressentiments zu schüren. Nur deshalb interessieren sie sich für Sozialpolitik. Auf der Welle der Wut der Enttäuschten werden sie in neue Ämter getragen. Diese Ämter ermöglichen ihnen (siehe Strache-Video) das demokratische System in seinem Kern anzugreifen und meistens auch den Wohlfahrtsstaat weiter zu demontieren.  Sie rufen als Lösung für die aktuellen Probleme des Kapitalismus, von denen alle immer spürbarer betroffen sind (z.B. über Fahrverbote, Kritik am Fleischkonsum etc.), Erinnerungen an alte Zustände auf, in denen scheinbar alles „noch seine Ordnung hatte“. Sie knüpfen damit eben auch an die positiven Erinnerungen des Alltagsethos und die Sehnsucht nach der Stilllegung von Konflikten und ewig gleiche (einigermaßen gute) Lebensbedingungen vieler Menschen an. Ihre Lösungsvorschläge müssen aber dementsprechend antipluralistisch, irrational, grundrechtsverletzend und aus der Zeit gefallen sein. Die „gute alte Zeit“ die sie imaginieren, ist so nicht wieder herstellbar, weshalb sie sich in ihrer Praxis auf die Scheinlösung der Eliminierung von Sündenböcken verlegen.

Was tun als Gewerkschafter*innen im Bereich der Rentenpolitik gegen den Vormarsch der Rechtspopulist*innen? Zunächst einmal darüber aufklären, dass alle Rentenkonzepte innerhalb der AFD rassistische, fremdenfeindliche und diskriminierende Elemente aufweisen. Z.B. auch gegen Kinderlose, die der „deutschen Rasse“ keine Kinder gebären. Auch wenn die Rentenkonzepte der ganz rechten Teile der Partei ein umlagefinanziertes System beibehalten wollen: Verschiedenen Teilen der Bevölkerung, die nicht in ihre Vorstellung des „deutschen Volkes“ passen, will die AFD ihre Rente verweigern oder kürzen. Obwohl diese Kolleg*innen einzahlen sollen. Das ist rechtlicher Quatsch und zeigt die aggressive, antidemokratische Ausrichtung auch in der Sozialpolitik.  Außerdem: Nur zwei von sieben Vorschlägen innerhalb der AFD wollen das umlagefinanzierte Rentensystem stärken. Alle anderen Konzepte sind zutiefst neoliberal und kokettieren sogar mit der vollständigen Abschaffung der Umlagesysteme. In Österreich bekam man vorgeführt das rechtspopulistische Parteien in der Regierung zumeist eine radikal neoliberale und arbeitnehmerfeindliche Politik machen oder durchwinken.

Zum Zweiten sollten wir als Gewerkschafter*innen zu Gunsten unserer Glaubwürdigkeit als unserem höchsten Gut und Markenkern endlich Abstand nehmen von Parteien und Akteuren, die vom neoliberalen Populismus-Syndrom befallen sind. Auch wenn Rentenkonzepte, wie das Grundrentenkonzept von Arbeitsminister Heil, soziale Linderung bringen, muss ganz klar gesagt werden, dass die Grundrente die Riestertreppe nicht außer Kraft setzt. D.h. solche Konzepte helfen nicht, gegen die langfristige Absenkung des Rentenniveaus, welches die ‚unmoralische‘ Geschäftsgrundlage für Produkte bleibt, die wir eigentlich nicht brauchen. Populistisch ist es auch von der Bundesregierung, die Stabilisierung des Rentenniveaus bis 2024 auf 48 Prozent der Heilschen Rentenreform zuzuschreiben. Wie sogar dem eigenen Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung von 2017 zu entnehmen ist (S. 39), ist diese kurzzeitige Stabilisierung der positiven ökonomischen Entwicklung der vergangenen Jahre zuzuschreiben und hat mit dem Heilschen Gesetzentwurf nichts zu tun. Ab 2024 geht es dank der unveränderten Riestertreppe weiter abwärts mit dem Rentenniveau. Bedenklich erscheint dem Autor auch das immer stärkere Fördern des gewerkschaftlichen Engagements in Sachen Betriebsrente. Natürlich kann hier über Tarifverträge von Gewerkschaften Einfluss genommen werden. Bei einem vernünftigen umlagefinanzierten System, wären aber auch diese Systeme nur Kür für ein noch besseres Auskommen im Alter. Zusätzlich befeuern wir auch mit diesen Produkten die Gefahren die durch eine Absicherung des Alters über Finanzmärkte drohen.

 

Zum Weiterlesen:
Zur Rentenpolitik:
http://www.portal-sozialpolitik.de

Diese Seite wird betrieben von Dr. Johannes Steffen. Früherer Mitarbeiter der Arbeitnehmerkammer Bremen.

http://aktuelle-sozialpolitik.de/2019/02/22/fast-zwei-drittel-verdienen-unterdurchschnittlich-und-auswirkungen-auf-die-rente/

In diesem relativ aktuellen Artikel zum Einfluss des Niedriglohnsektors auf die Altersarmut von Prof. Dr. Martin Sell auf seinem lesenswerten Blog zur Sozialpolitik verbirgt sich eine einfache Erklärung der Struktur der Rentenformel.
https://www.cicero.de/wirtschaft/demografische-entwicklung-die-zahlentrickser

Ein Artikel des Statistikers Prof. Dr. Gerd Bosbach zum neoliberalen Demografiepopulismus.
https://www.fr.de/wirtschaft/rentenkonzept-afd-national-soziale-anstrich-rechten-zr-12829626.html
Kommentar von Prof. Dr. Gerd Bosbach zur rechtspopulistischen Rentenpolitik des rechtsextremen Flügels um Björn Höcke.

Zur politischen Meinungsbildung in kapitalistischen Gesellschaften:
Bourdieu, Pierre (1997): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 9. Auflage, Frankfurt a. Main. Darin: „Politik und Bildung“ (S. 620-726)

Zur „unteilbaren demokratischen Vernunft“:
Polanyi, Karl (2015): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 12. Auflage, Frankfurt am Main.

https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=52045&token=aaa70248be7e5c09b27a142eac8ae4682aedc50c&sdownload=&n=2017-01_BiFi_Demokratie_Kaphegyi_BildungWeiterDenken-web.pdf
Vor allem die Seiten 7-10. Der Autor zu seinem Konzept der „unteilbaren demokratischen Vernunft“, dass eine globale Durchsetzung sozialer Menschenrechte als Voraussetzung für den Erhalt der Demokratie und als Gegenpol zu neu entstehenden Faschismen ansieht.